DIE ROSE AUS KALININGRAD

Autor: Emil Cipar

Übersetzung aus dem Kroatischen: Mirela Bajlovic Marasovic

foto: Sonja Breljak

Man könnte behaupten, diese Geschichte habe nichts mit der kroatischen Diaspora gemein. Dennoch werde ich sie erzählen, du kannst dann selbst entscheiden. In allen Fällen ist diese Geschichte ein Teil von mir und ich wiederum bin mit der Diaspora verbunden…ich bin ein Teil von ihr.

Vor kurzem habe ich meinen Garten in Bartolovci gepflegt.  Bartolovci ist ein Dorf nördlich von Brod. Hier bin ich aufgewachsen, hier liegen meine Eltern begraben, und wahrscheinlich werde auch ich hier begraben werden. Ich habe 35 Jahre lang in Deutschland gelebt, nun lebe ich in Slavonski Brod, in Kroatien.

Nun…in Bartolovci habe ich einen Garten…oder eher einen Obstgarten…oder etwas, was erst im Entstehen ist. Vor langer Zeit war das mal ein Weinberg, aber er war alt und man hätte ihn erneuern müssen. Ich entschied mich für einen Obstgarten mit verschiedenen…autochthonen Obstsorten. In einem Teil des Obstgartens habe ich eine nostalgische Ecke. Eine Quitte aus Bosnien, wo wir einst lebten, eine Esche und eine Ulme aus den Wäldern in Remscheid…

Dort, in Deutschland, verbrachte ich einen großen Teil meines Lebens.

In der nostalgischen Ecke meines Gartens ist auch eine weiße Kletterrose. Vor ein paar Jahren habe ich sie erst eingepflanzt, nur hat sie sich noch nicht richtig entwickelt. Sie pflege ich am meisten, denn es liegt mir viel daran, dass sie gedeiht und sich wohlfühlt.

Damit die Geschichte hier interessant wird, muss ich in die Vergangenheit zurück.

Kaliningrad im Winter 1944/45.

Ende 1944 wurde die Stadt von den Briten bombardiert, es herrschte Chaos. Den Untergang des Dritten Reichs konnte man förmlich riechen. Die Stadt hieß damals Königsberg und in ihr lebten hauptsächlich Deutsche. Es war die Hauptstadt von Ostpreußen, eines Mitgliedstaates des Dritten Reiches.

Die Deutschen, die sich in diesem Winter dort befanden, wollten nur eins…so schnell wie möglich in den Norden. Doch es war nicht so einfach. Der Landweg führte über die Masuren, eine Region aus Wäldern, Seen und Mooren, mit kaum begehbaren Straßen.

Der Weg übers Wasser, genauer, über die Ostsee war gefährlich. Unzählige russische U-Boote warteten dort.

Klaus M. war zu der Zeit dreizehn Jahre alt und das älteste Kind von sechs in seiner Familie. Seine Eltern waren Gärtner oder wie sie sich selbst nannten, Obstbauer. Sie lebten von Obstanbau und dem Verkauf von Obstsetzlingen und selten…von Blumen.

Mitten im Wahnsinn in diesem Winter, als klar stand, dass es Zeit wird alles zu verlassen, was man bis dahin in seinem Leben erreicht hatte, als es hieß, man muss aufbrechen ins Unbekannte…dem Instinkt folgen…im Norden ist es sicher…in dieser Lage befand sich auch die Familie von Klaus M.. Es gab keine Zeit zum Nachdenken. Klaus´ens Eltern waren sich der Gefahren, denen sie sich aussetzen müssen, bewusst, es gab keine andere Möglichkeit…dies wurde auch von dem immer näherkommendem Kanonendonner deutlich gemacht.

– Irgendwann in der Nacht weckte mich meine Mutter. Meine Geschwister schliefen noch. Mutter reichte mir meine Kleidung, meine Schuhe und streichelte mir über das Haar. Ich erinnere mich nicht, dass sie das jemals zuvor getan hat.

Sie führte mich nach draußen, genauer genommen in die Werkstatt, in der mein Vater sein Werkzeug aufbewahrte und Setzlinge vorbereitete. In der Werkstatt sah ich Koffer, diverse Päckchen, meinen Vater, der damit beschäftigt war, ein kleineres Bündel in Zeitungspapier zu wickeln. Er machte das sehr präzise.

Ich ahnte, dass uns was Großes bevorsteht. Vater schwieg und bündelte. Meine Mutter strich mir immer wieder übers Haar.

Klaus… entgegnete mir Vater. Es war das erste Mal, dass er mich mit Namen ansprach. Bis dahin war ich immer – „Kleiner“…so nannte er mich.

Klaus… der Augenblick ist da in dem du so vieles auf einmal verstehen musst. In diesem Bündel ist die Rose. Sie ist der Ableger unserer Rose. Pass gut auf sie auf und achte auf sie und wenn du den Norden erreichst, wenn du eines Tages dein eigenes Zuhause hast, pflanze sie ein, pflege sie und sie wird dich ernähren.

 Verwirrt sah ich zu meiner Mutter. Sie stand wie versteinert neben mir und weinte. Sie strich mir weiter übers Haar.

 In dieser Nacht verließ ich Kaliningrad und ging in die Richtung, in der man die Kanonen nicht hören konnte.

Von Himmelsrichtungen wusste ich damals nicht all so viel, nur dass es gefährliche gibt und solche, die einem Hoffnung geben. Meine Eltern warteten auf eine Gelegenheit auf ein Schiff zu gelangen, das sie in den Norden bringt. Wegen meiner kleinen Geschwister wagten sie es nicht den Weg über die Masuren einzuschlagen. Vater dachte, dass ich eine Chance haben könnte, daher entschlossen sie sich, mich allein fort zu schicken. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört, weder von ihnen noch von meinen Geschwistern. Sicher haben sie es in letzter Sekunde auf ein Schiff geschafft…Wilhelm Gutsloff, General von Steuben oder Goya, sie waren nicht auf der Passagierliste, daher wurden sie nirgends registriert. Das Schiff wurde von einem U-Boot getroffen, alle Passagiere kamen ums Leben.

Ich bin auf dem Weg hier her erwachsen geworden.

Meine Reise hat so lange gedauert…was heißt gedauert…sie dauert immer noch.

Diese Geschichte erzählte mir Klaus M., mein Nachbar in Remscheid. Er hatte eine kleine Gärtnerei in der Nachbarschaft. Ich unterhielt mich oft mit ihm und der Anlass für unsere Unterhaltung war eine riesige Kletterrose in seinem Garten. Eine wunderschöne weiße Rose, die auf einer Konstruktion aus geschmiedeten Eisen wuchs und einen Schatten in den Garten warf.

Es war die Rose, die Klaus aus Kaliningrad mitgebracht hatte.

Klaus lernte ich auf einer Bilderausstellung, eines russischen Migranten, Oleg P., kennen.  Man konnte Klaus ansehen, dass er der Malerei nicht viel abgewinnen konnte, aber er blieb lange auf der Ausstellung. Es war nicht üblich, dass sich Deutsche für solch ähnliche Manifestationen/Veranstaltungen interessieren. Klaus weckte meine Aufmerksamkeit und ich kam mit ihm ins Gespräch.

– Ich weiß, du wirst es nicht und kannst es gar nicht verstehen. Du bist nach Remscheid gekommen, aus freiem Willen, mich hingegen brachten die Umstände hier her. Meine Heimat ist Königsberg. Im Frühling 1945 kam ich hier her, den ganzen Weg ging ich zu Fuß. Ich bin Deutscher, aber ich denke, ich habe eine slawische Seele, wir fühlen auf dieselbe Weise…

Ich habe keine Ahnung wie ein Deutscher fühlt. Aber ich bemerkte, dass ich mich sehr gerne mit Klaus treffe und ganz oft sitzen wir im Schatten unter der Rose.

Das hier ist meine Heimat, dieser Schatten unter der Rose. Zuerst pflanzte ich sie dort oben ein, aber da machten sie dann diesen Weg und ich pflanzte sie um. Nun steht sie hier. Alle Ableger in der Gärtnerei stammen von dieser Rose ab. Jetzt ist es etwas schwerer sie zu verkaufen, denn ich kann nicht mit den großen Gartencentren konkurrieren. Aber meine Kinder werden sich ohnehin nicht mit der Gärtnerei befassen.

Klaus erzählte mir, unter dieser Rose sitzend, von seinem Fluchtweg nach Norden…wie er Ansiedlungen vermieden hat, wie er Mäuse und Hamster jagend überlebte, sie über dem Feuer briet, als er sicher sein konnte, dass ihn der Rauch nicht verraten wird. Und all die Zeit über trug er die Rose unter seinem zerschlissenen Mantel.

Im Norden angekommen, traf er auf Feindseligkeit der einheimischen Bewohner. Er lief weiter und weiter…müde und kraftlos.

In Remscheid brach er endgültig zusammen. Ganz in der Nähe seines jetzigen Wohnortes wurden damals Baracken für Flüchtlinge eingerichtet. Eine dieser Baracken diente als Lazarett und eines Tages wachte Klaus in einem Bett in diesem Lazarett auf. Ein Bauer aus der Nachbarschaft habe ihn gefunden, leblos, bewusstlos. Die Rose pflanzte der Bauer in seinen Garten, denn die Rose hatte schon neue Triebe.  Als es Klaus besser ging, half er dem Bauern bei den Arbeiten auf dem Bauernhof. Der Bauerssohn kam nicht aus dem Krieg zurück, daher war jede helfende Hand herzlich willkommen.

– Bereits im nächsten Herbst habe ich die Rose da oben eingepflanzt. Einen Herbst später hatte ich um die zwanzig Ableger. Als man Remscheid vom Schutt befreite, fingen die Menschen langsam an Blumen zu pflanzen. Die ersten Rosenableger tauschte ich ein für Werkzeug, Kleidung… Da wo jetzt die Gärtnerei steht, habe ich auch ein paar Weißdorne gepflanzt. Die Erde lieh mir der Bauer aus.

Ich heiratete, bekam Kinder, die Arbeit wuchs…die weiße Rose aus Kaliningrad breitete sich über Remscheid aus. Von meinen Eltern, Brüdern und Schwestern habe ich nie wieder etwas gehört. Ich habe kein einziges Foto von ihnen. Nur eine Rose…diese hier. Es gibt ein herrliches russisches Lied…es heißt Rjabinuska. Ich liebte dieses Lied. Selbst heute kommt es mir manchmal vor, dass ich glaube, die Stimmen der Arbeiterinnen im Schatten dieser Rose zu hören.

Klaus schenkte mir einen Ableger. Ich pflanzte ihn im Garten meiner Schwester in Bartolovci ein. Jetzt ist sie schon so weit, dass sie auf der Terrasse Schatten spendet und während des ganzen Sommers ist sie voll von weißen, duftenden Rosenblüten.

Einer ihrer Ableger ist auch in meinem Garten. Klaus verstarb und wurde in Remscheid begraben, weit weg von Kaliningrad, weit weg von Rjabinuska.

An der Stelle, an der Klaus die Rose gezüchtet hatte, ist jetzt eine neue Straße entstanden. Bagger schaffen es Dinge zu zerstören, zu verändern… Aber ich glaube, dass die Rjabinuska sich auf ewig bewehrt.

Meine Rose ist noch eine junge Pflanze. Und auch ich werde sie umpflanzen müssen, da ihr der Platz, an dem sie jetzt ist, nicht gefällt, man muss bedenken, dass die Esche und die Ulme aus Remscheid wachsen werden. Und wer weiß…vielleicht werden sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Die Rose aus Kaliningrad könnte ihnen viel von Migration in Europa erzählen. Sie ist eine Zeugin der Sinnlosigkeit, der Nostalgie, des Gefühls der Entfremdung und der Dazugehörigkeit…Sie ist eine Zeugin von Verbindung, von Verschmelzung verschiedener Kulturen. In meinem Garten soll sie sich wohl fühlen. Neben ihr ist noch ein Fliederbaum…ein weißer Fliederbaum, auch er hat eine eigene Geschichte.

Ein bisschen weiter gibt es eine zweite weiße Rose, ebenfalls ein Ableger der Rose aus Kaliningrad. Sie ist die Jüngste in der Runde, aber sie hat einen Namen. Den Namen hat sie von einer Person, mit der sie ein ähnliches Schicksal teilt. In ihre Nähe pflanzte ich auch eine Kornelkirsche ein. Sie fühlt sich nicht wirklich zu Hause, ich vermute sie trauert um den Wald, aus dem ich sie geholt habe. Ich kann nur hoffen, dass sie eines Tages ihr Umfeld annimmt und Wurzeln fasst.

Sollte ich den Schatten meiner Rose erleben, könnte ich in diesem Schatten sitzend in meine Biografie blicken. Und die Rose wird das Lied Rjabinuska singen.

Es muss nur noch die Kornelkirsche Wurzeln schlagen.

 

 

 

0 0 votes
Article Rating

Related Post

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments