DIE ZUGFAHRT

IZ NAŠE ARHIVE
ANJA´S BRIEF
piše: Anja Breljak
anja.breljak@gmx.de

Sarajevo/ Neunzehn Stunden dauert die Zugfahrt von Sarajevo nach München. Mit dem Bus dauert die Reise genauso lange, bis nach Berlin wären es etwa 26 Stunden.
Neben mir saß ein älterer Mann, der seinen Platz nicht mit meiner Mutter tauschen wollte. Mein kleiner Bruder saß auf ihrem Schoß. Ich kann mich nur noch an die Dunkelheit erinnern. Und daran, wie mein kleiner Bruder anfing sich zu übergeben. Der ältere Mann überließ schließlich seinen Platz meiner Mutter, als auch ich den ziehenden Gestank einer Plastiktüte einatmete. Wie wir über die Grenze gekommen sind, wie sich der Schritt von einem Land ins nächste anfühlte, wie uns die andere Welt entgegenkam, weiß ich nicht mehr. Nur, dass es überall nach Erbrochenem roch.
Ich suche vergebens nach einem leeren Abteil. Manche riechen nach Rauch, in anderen sitzen Päarchen, Familien , düstere Gestalten. Er hat ein weiches, dunkles Gesicht. Er sucht kein Gespräch, und ich atme auf, setze mich bequemer hin, hole mein Buch hervor. Ein älterer Mann betritt das Abteil. Sie sprechen eine fremde Sprache. Beide nicken dem Schaffner bei der Fahrkartenkontrolle einfach zu, mein Ticket bekommt eine Unterschrift. Bis halb zehn Uhr abends sitzen die Frauen in den Kartenhäuschen, bis der letzte Zug abgefahren ist. Auch hier muss man sich zum Loch hinunterbeugen, um mit denjenigen hinter der Scheibe sprechen zu können. Sie telefoniert. Das München-Spezial kennt sie nicht, muss sich durchfragen, schreibt, telefoniert, sucht. Sie verkauft es zum ersten Mal. Für 140 Mark kommt man mit dem Zug nach München und zurück. Es dürfte eigentlich nichts schiefgehen, sagt sie. Auf der Rückfahrt erklärt mir ein Schaffner in Kroatien, mein Ticket sei ungültig.
„Mein Volk ist fremd hier. Sie vertrauen nicht, sie wollen nicht dazugehören.“ Immer tanzt ein Lächeln auf seinen Lippen. Und wenn er erzählt, kommt er vom Thema ab. Als hätte er ein ganz anderes Verständnis vom Erzählen, als ob ihn die Melodie seiner eignen Stimme davontragen würde. Musiker ist er. Seine sanfte Stimme, dieser weiche Ton in seinem eigenartigen Akzent, trägt auch mich davon im Gespräch. Seine hängende Haut wabert mit der Bewegung des Zuges. Der Abend zieht an uns vorbei, an den verdreckten, wackelnden Scheiben. Ihm gegenüber sitzt der schweigende Jüngere, dunkel, tiefschwarze Augen. Sie sind Roma. Der Jüngere arbeitet auf den Schrottbergen Mostars und reist jedes Wochenende zur Familie zurück, in einen kleinen Ort in der Nähe von Zenica. Zweitausend Häuser wurden mithilfe von Regierungsprogrammen dort gebaut. Der Ältere hat für die Regierungsgelder gesorgt. Er ist Respräsentant der Roma in vier Kantonen Bosnien und Herzegowinas. Politisch haben sie kein Gewicht, kein Heimatland, das Druck auf die hiesige Politik ausüben könnte, keine Vertreter im Parlament, keine zugelassene Partei. Dafür müsste erst die Verfassung geändert werden. Etwas Melancholisches zieht sich durch sein Geschicht, wenn er von seiner politischen Arbeit, wenn er von seinem Volk spricht. Manchmal hat er den Eindruck, es sei sinnlos. Und manchmal vermisst er die Zeit der Musik. Manchmal sei es so, als säße er in einem fahrenden Zug, ohne je erfahren zu haben, wohin die Reise geht.
„Wohin fährt dieser Zug?“ Die Decke schüttelt sich. Seine Augen sind weit aufgerissen, keine 30 Zentimeter von meinen entfernt. In der Tür steht ein anderer Mann. Ich umklammere meinen Kopf, unter dem meine Tasche liegt. Der Schaffner hatte mir noch zugeworfen, ich solle nicht einschlafen bis zur kroatischen Grenze. Zu gefährlich, vor allem die Gegend um Banja Luka. Vor allem Nachts. Und vor allem, wenn man alleine unterwegs ist. Wohin fährt dieser Zug, fragt die ungeduldige Stimme noch einmal. Zagreb, sage ich verwirrt. Warum will jemand im fahrenden Zug wissen, was das Ziel ist, denke ich noch misstrauisch. Und schon verschwanden die Augen aus der Tür. Das Licht geht aus. Die Sonne kriecht mühsam wie der Zug die Hänge der Hügel und Täler hinauf. Manche Gipfel tragen noch Schnee, andere mächtige Tannen, in deren Fängen kaum ein Lichtstrahl hängen bleibt. Hin und wieder blitzt nackter Stein hervor. Wobei der Weg nach Norden immer sanfter, seidiger wird. Der Nebel verzieht sich. Ein kleines Mädchen winkt dem Zug. Ihre gelbe Gießkanne schüttelt sich mit jedem Hinundher ihrer anderen Hand. Vielleicht wartet sie auf jemanden. Vielleicht soll jemand zu Besuch kommen. Vielleicht winkt sie auch einfach in der Hoffnung, dass sie von jemanden gesehen wird, in der Hoffnung, dass jemand zurückwinkt. Ich winke zurück.

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