ERINNERUNGEN
von Anja Breljak
Der Radiergummi neben den Bleistift neben den Anspitzer.
Er schreibt das Datum in die rechte Ecke. In die linke schreibt er seinen Namen. Über dem S ein kleines Häkchen.
Unter den Buchstaben zwei zitternde Striche. So als wollte er unterstreichen, dass zumindest etwas von ihm auch tatsächlich an diesem Ort ist. Dass er an diesem Tisch sitzt.
Das Mädchen neben ihm verdeckt mit ihrem linken Arm ihr Blatt, schützt ihr Papier, auf das kleine Zeichen kleckern. Buchstaben, die er kennt, in einem runden Chaos, in einem Schwung, als würden sie zusammengehören.
Als sein Füller von den weißen Fasern ablässt, kann er der schwarzen Farbe beim Trocknen zuschauen – wie sie sich zwischen die Zeilen treibt, fast unbemerkt zur nächsten Faser gießt, und genauso unbemerkt stehen bleibt. Als hätte sie das nur für ihn getan. Der Radiergummi neben den Bleistift neben den Anspitzer. Er hält seinen Atem gefangen, damit niemand hört, niemand sieht, dass er aufgehört hat zu schreiben. Rutscht nicht zurück, drückt sich den Füller gegen die Unterlippe. Und wartet bis ein Rascheln aus einer Ecke des Klassenzimmers kommt, damit er die gefangengenommene Luft wieder freilassen kann.
„Ich dort, in der ersten Stunden – kaum hatte ich mich hingesetzt, hatte ich einen Test vor mir. “Siebte Klasse. Zwei Jahre Warten liegen zurück. Warten und aus dem Fenster schauen und in den Fernseher, und der Mutter beim Weinen zuhören, und dem Vater beim Schweigen. Seine Schwester war bereits in der Schule, nun sollte auch er eingeschult werden. Eine Gesamtschule, mitten im Schuljahr war es, als er die Klasse betrat. Kaum ein Wort Deutsch verstand er. Zwei Jahre später sollte er Klassenbester werden. Nach sieben Jahren hatte er sein Abitur, dann einen Studienplatz. Jetzt hat er seinen Doktor.
Er hatte Glück. Das weiß er mittlerweile. Er hatte viel Glück. Kaum Ausländer waren in seiner Klasse, die meisten Kinder sprachen Deutsch. Er hatte Glück, weil er auf der Gesamtschule die Chance hatte, sein Abitur zu machen.
Er hatte Glück, weil er die fünfte und sechste Klasse verpasst hatte, gewartet hatte mit seinen Eltern, gewartet zurückgeschickt zu werden, darauf, dass etwas passiert, darauf wieder ins Leben zurückzukehren, ohne das sie wussten, wie das hätte gehen können. Und dann, einfach so, saß er in diesem Klassenzimmer vor einem Test in Geschichte, und wartete darauf, dass es vorbei sein würde, dass die Lehrerin die Zettel wieder einsammelt, und sein leeres Blatt zwischen den anderen verschwindet.
Wenn das Warten zur Regel wird, dann ist derjenige Moment die Ausnahme, in dem das Warten zu Ende geht, du an die Reihe kommst, die Regel sich bricht. Die Ausnahme aber ist das, was das Warten bestimmt, worauf es sich bezieht. Sie ist Ziel und Anfang des Wartens.
Der Grund, weshalb sie in Berlin waren, ist eine Ausnahme: Der Krieg, der sich in ihr Leben geschoben hatte. Ihre Flucht, ihre Ankunft, der erste Moment in der Ausländerbehörde. Sogar die erste Zahl auf der Ziffernanzeige im Warteraum war noch eine Ausnahme. Und dann wurde sie zur Regel. Stundenlang schauten sie auf die weiß-grauen Ziffern auf schwarzem Untergrund, die sich drehten und wendeten.
Sie schauten auf die Familien, die schreienden Kinder, den Geruch des Wartens, der sich durch den schiefen Raum zog. Und dann waren sie an der Reihe. Sie traten vor den Schreibtisch, hinter dessen Ende sich ein kleines Gesicht mit roten Haaren aufbäumte. Sie gab ihnen Papiere zum Ausfüllen, Fahrkarten, und zeigte stumm auf die Karte, um ihnen zu erklären, wo man sie unterbringen würde. Sein Vater nickte schweigend, seine Mutter weinte. Und dann warteten sie auf den nächsten Termin in der Behörde. Und warteten fast ein Jahrzehnt.
Irgendwann wird das Warten ein Teil deiner Selbst. Man verliert sein Gefühl für die Zeit, den richtigen Moment, um eine Entscheidung zu fällen, und wartet auf die Ausnahme, die zur Erlösung wird. So saß er da, und wartete bis die Lehrerin die Zettel wieder einsammelte.
Er legte den Füller neben den Radiergummi neben den Bleistift neben den Anspitzer. Und wartete bis zur Pause. Bis Schulschluss, bis sein Vater ihn wieder abholte und sie gemeinsam zurück ins Asylantenheim gingen. Es war nicht Glück, dass das Warten kein Teil seiner Selbst geworden ist. Das war eine Entscheidung, die er selbst gefällt hatte, weil er anfing sich selbst als Ausnahme zu betrachten. Wenn man eine Ausnahme ist, ist man unabhängig. „Wenn man unabhängig ist, kann man besser sehen“, sagt er zu mir, als ich ihn frage, wohin er gehört.
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