DER BRIEF AUS SARAJEVO

autor: Anja  Breljak

Angekommen!
Etwa dreißig Jahre sind vergangen. Sie, mit schwarzen Locken, betritt dieselbe Wohnung. Elfter Stock. Unter ihr parken und fahren und halten die Autos, vor ihr die Häuser und Hügel von Novo Sarajevo. Und die erste Nacht ist voller ungewohnten Lärms, beißenden Lichts und drängenden Bildern.
Immer und überall schlafen zu können ist mein Glück. Nur diese erste Nacht ist, als hätten sich meiner Mutter Erzählungen von ihrer ersten Nacht in eben derselben Wohnung in mich geschlichen.
Als ich klein war, vielleicht zwei oder drei, fuhren wir häufig zu meiner Großmutter aufs Land, nach Zlavast, keine 5-6 Kilometer von Bugojno entfernt. Meine Großmutter hatte ein kleines Häuslein, heute nur noch Stein auf Steinen, ein Gerüst der Zeit, mit schreiendenLöchern anstelle von Fenstern, verwachsenen Sträuchern anstelle von Mauern.
Kalt war es jene Nacht.
Mein Bruder lag im Babybettchen und ich wurde tief unter zwei Decken festgesteckt. So steckte ich mich auch in dieser ersten Nacht fest. Und wie mich allmählich der Schlaf mit dem Traum einholte, spürte ich immer fester Füße und Hände im Bett, die nicht meine waren.
War es mein Bruder?
Unmöglich, er konnte noch nicht laufen. War jemand durch die Tür gekommen, der ich das Sicherheitsschloss nicht vorgeschoben habe? Sie griffen nach mir, die Hände. Sie zogen an mir, während mich die Füße traten, die ich zurückzutreten versuchte. Ich verzog mich auf mein Kopfkissen, dorthin, wo die fremden Füße und Hände nicht hingreifen konnten.
Und ich erwacht, zwanzig Jahre später, mit derselben Angst, genauso zusammengerollt auf meinem Kopfkissen wie damals.

Wie seltsam messen wir Zeit, wenn im Zwischen Dinge liegen, die wir nicht messen können; nicht messbar, weil der Alltag daran scheitert.
Vor dem Krieg und nach dem Krieg.
Und ich erwische mich selbst, wie ich Häuser und Stadtteile in vor und nach dem Krieg einteile. Wie ich nach Merkmalen, nach Einschusslöchern suche. Wie ich die Spaziergänger dem Alter gemäß abschätze, wie viel wer erlebt hat. Und wie ich meine Erinnerungen auf die eine Seite und meine Erlebnisse auf die andere Seite stelle. Und wie ich eben deshalb Parallelen ziehe, zwischen Damals und Heute. Die junge Mirela, vielleicht zehn, schaut von der lavendelfarbenen Wand, so wie meine Mutter als junges Mädchen in der Wohnung meiner Großmutter in Bugojno hängt und über alles Geschehen wacht.
Bis Ende 1992 ist sie noch die zehn Minuten Fußweg zur Philosophischen Fakultet gegangen, die ich nun jeden Tag gehe. Nur ging sie von ihrem Vater begleitet, beide geduckt, Mirela mit dem Mantel ihres Vater abgeschirmt. Bis Ende 1992 besuchte sie Vorlesungen im Keller der Fakultet, nahm an Prüfungen teil, manche im Keller, manche in den Häusern der Professoren, während Schüsse über ihren Köpfen zischten. Es war ihr erstes Jahr. Und als schließlich mit diesem dahingekrochenem Jahr das Fakultetsgebäude, durchsiebt und zerschossen, ohne ein ganzes Fenster, geschlossen wurde, blieb nur das Aussetzen des Alltags.

Und die Flucht.
Mirelas Mutter erzählte mir das, als sie mich auf meinem ersten Weg zur Fakultet begleitete….

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