FLÜCHTLINGSKINDER

ERINNERUNGEN
von Anja Breljak

„Was ich bin?“ Fragt Martina mich zurück. Und ich erschrecke kurz über diese Frage. Eine gelbe Straßenbahn rauscht über die Oranienburger Straße. Wie würde ich denn selbst antworten?
Und dann huscht dieses schwermütig strahlende Grinsen auf ihr Gesicht.
„Immer noch ein Flüchtling,“ sagt sie, und hat dabei ein ganz bosnisches Gesicht.

In diesem fünfzehnten Jahr nach dem offiziellen Ende des Krieges in Bosnien und Herzegowina sind wir heute, damals Kinder, ausgespuckte Erwachsene. Wir haben den Rachen gesehen. Seine Zähne knabberten kurz an unseren Knochen, und spuckten uns dann in die Welt zurück. Ihr wart ja noch Kinder, zum Glück. Und manchmal sage ich das auch: „Ich war ja noch ein Kind, zum Glück.“ Und sage das irgendwie zornig, um mich von meiner eigenen Erinnerung zu entfernen, ihr jetzt die historischen und politischen Umstände anzurechnen. Und manchmal sage ich das so vor mich hin, mit meinem bosnischen Gesicht: ich war ja noch ein Kind.
Fuenfzehn Jahre nach dem Krieg haben wir, seine Kinder, ihn an mancher Stelle verdrängt, umgeschrieben, mit unseren Kinderaugen im Gedächtnis aufbewahrt, aber sicher nicht vergessen.
Habt ihr uns je danach gefragt, Mütter und Väter? Habt ihr uns je ehrlich und vollständig geantwortet, wenn wir euch gefragt haben? Ja, wir waren noch Kinder.
Aber wir haben unsere Erinnerungen, die uns bis ins Jetzt ausmachen und mitbestimmen, die ihre Spuren hinterlassen haben und uns noch heute zu Flüchtlingen machen.

Sabina, heute ist sie 24 Jahre alt:
Ich sah Brücken, die improvisiert worden sind, weil die Autobahnbrücken zerbombt waren, wie Rutschen, einfach eingebrochen. Ich weiß, dass ich Angst hatte, über diese wackeligen, improvisierten Brücken zu laufen.
Und ich hatte damals einen kleinen Hund, den wir zurücklassen mussten. Und ich hab mir einfach nur die ganze Zeit gedacht: Oh mein Gott, mit meinem Hund könnte ich hier niemals drüber gehen. Was wenn er hier runterfällt?
Also, ich war ja sechs Jahre alt.“ .

Martina, heute 24 Jahre alt:
Ich weiß noch ganz genau, wir sind aus unserer Wohnung gegangen und hatten nur zwei Koffer mitgenommen – du denkst: sechs Wochen in den Urlaub fahren. Und ich hab mich einfach nur gefreut meinen Vater endlich wiederzusehen. Die ganze Fahrt saß ich stocksteif vor Freude da, und habe kaum mitbekommen wie anstrengend 24 Stunden im Bus sein können.

Nebojsa, er war damals 12 Jahre alt:
Frau, pack die Sachen zusammen, sagte mein Vater. Meine Mutter konnte nicht aufhören zu weinen.
Und sie klammerte sich die ganze Zeit an Sachen im Haus, sie wollte einfach nicht gehen.
Wir packten einen Koffer und nahmen die wichtigsten Dokumente. Meine Mutter versteckte seit eh und je oben auf dem Dachboden einen Sack voller Walnüsse. Und ich weiß noch, dass ich nach oben stürzte, und eine handvoll Nüsse nahm. Das war das Letzte, was ich in meiner Hand hielt, als ich ins Auto stieg. Meine Mutter weinte den ganzen Weg.

Wir sind noch heute Flüchtlingskinder – verzeiht mir diesen Ausdruck, ein besserer kommt mir nicht in den Sinn. Nimmt er nicht wunderbar auch das Spielerische auf, das in unserer Erinnerung an die Flucht lauert?
Hattest du keine Angst, werde ich manchmal gefragt. Vor der Flucht? Vor den Schüssen?
Nein. Ich bekam Angst, als ich sah, wie hilflos meine Eltern waren. Und darin unterscheiden wir Flüchtlingskinder uns nicht, auch wenn ihr uns schon nach unseren Namen zugeordnet habt. Ob Kroaten, Serben oder Bosniaken.

Damals waren wir Kinder, ohnmächtig. Unsere Eltern waren es auch. Und irgendwie gewöhnten wir uns an diesen Zustand: vom Zufall hin und her geworfen, verloren, ohne Platz in der Welt, mit einem Riss in der Vergangenheit, ohne Halt und Zugehörigkeit. Wir stehen immer noch auf der Schwelle, klopfen an den Türen und bitten um Asyl – so, wie wir es in unserer Kindheit gelernt haben. Und auch wenn wir wissen, in welche Richtung wir gehen wollen. Wo wir uns befinden, das können wir nicht so recht bestimmen.

Die Frage ist: müssen wir das? Müssen wir, mit dieser zerrissenen Identität, aufs Geratewohl eine Heimat erzwingen, so wie ihr, Mütter und Väter, es von uns einfordert? Uns für einen Platz entscheiden? Oder können wir nicht einfach auf der Schwelle vor der Tür stehen bleiben? Wartend. Auf das Gefühl von Heimat. Ohne eine Last zu sein, irgendwie doch teilnehmen, wenn auch nicht mitbestimmen, was sich im Inneren abspielt.

Nebjosas Mutter bringt Palacinke mit Erdbeermarmelade ins Zimmer, und ich muss unweigerlich an meine Mutter denken, wie sie in der Küche singend die Pfanne mit zuckenden Bewegungen in Richtung Decke flippt. Ich fühle mich heimisch, im Inneren, mit dem Geruch. Das war also der Schritt über die Schwelle? Und wir lachen uns an über dieses gemeinsame Gefühl.

„Bosnische Erinnerungspfade“ unter diesem Projektnamen entstanden fünf Interviews in Deutschland, je vier in Slowenien, Frankreich, der Türkei, drei in England und eines in Polen. Wir, ein vierköpfiges Team, fragten junge Erwachsene, die als Kinder vor dem Krieg in Bosnien und Herzegowina mit ihren Familien geflohen waren, und nun als Erwachsene in dem Land ihrer Zuflucht leben, arbeiten, sich erinnern. Wir haben gefragt nach den ersten Erinnerungen, nach Flucht und Ankunft, nach Leben und Seinwollen, Identität und Religion. Ich verarbeite diese Interviews im Folgenden in Form dieser Kolumne.

„Bosnische Erinnerungspfade“ ist ein Projekt der Geschichtswerkstatt Europa, einem Förderprogramm der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft.

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