ANJA’S BRIEF
piše: Anja Breljak
Mich verfolgt in den letzten Tagen eine seltsame Angst. Es ist keine Angst, die mich antreibt, sondern eine, die mich gleichzeitig ersticken und panisch atmen lässt. Der erste Schritt aus dem Flughafengebäude. Der erste Blick auf die Klingelanlage und eine mentale Ohrfeige, weil ich den Nachnamen meiner Vermieterin vergessen hatte. Das erste „Ciao“, ein halbkreisförmiger Wink, ein verstohlenes Lächeln und eine zu schnelle, etwas unbeholfene Bewegung zum Stuhl, als ich das erste Mal den Seminarraum betrat.
In den ersten Tagen lief alles in seinem Laufen, mit all jenen Zweifeln und all jener Angst vor den nächsten Monaten, davor, dass etwas nicht klappt, dass man sich verläuft, dass man am Ende bereut. Das war die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten. Vor dieser Stadt und ihren Einwohnern. Vor dieser Geworfenheit in eine neue Umgebung.
Als ich nach einem kleinen Berlinbesuch vor einigen Tagen wieder den Seminarraum betrat, holte mich erneut Angst ein, aber dieses Mal war es keine Angst vor dem Neuem, sondern eine Angst vor mir selbst, eine trabende Panik in meinem Hals, davor anzuhalten, durchzuatmen, mich selbst mit den Augen der anderen zu sehen.
„Ciao, pa gdje si ti?“ Körper drehen sich zu mir, Gesichter hellen sich auf, sie lächeln, sie fragen nach Berlin, sie fragen mich, ob ich mit zum Kaffeetrinken komme.
Nein, will ich nicht. Ich will nicht näher kommen. Ich will sie nicht näher an mich heranlassen. Dann wird der Abschied so schwer – das ist die erste Lüge. Dann gerate ich wieder in diese Verpflichtungen anderen gegenüber, weil ich nicht „Nein“ sagen kann, weil ich mich ausgeliefert fühle, sobald ich erst unter Leuten bin – das ist die zweite Lüge.
Ich will nicht zurück auf meine Berliner Bühne, wo ich an der Strippe des Rechtmachens hänge, wo ich wieder in eine Rolle zurückgerutscht bin, von der ich dachte, mich gelöst zu haben.
„Ich trinke meinen Kaffee immer allein in der Küche, mein Mann trinkt seinen im Wohnzimmer.“ Wir sitzen in ihrer Küche, Apfelsaft in den Gläsern. Ich knabbere schüchtern um meinen Keks herum. Kaffeetrinken gehört hier zum Alltag. Vier, fünf Mal am Tag. Sobald sich ein kleines Päuslein ergibt, macht man sich in einem Grüppchen auf den Weg zum nächsten Café.
Man genießt den Kaffee, raucht seine Zigarette, erzählt Witze, sinkt zurück in seine Gedanken, schweigt sich an. An sonnigen Tagen sind die Terassen der Cafés überfüllt. Die einzigen, die alleine an den Tischen sitzen, sind ältere Menschen.
„Komm mich doch häufiger besuchen“, sagt sie zu mir, als ich zum Fahrstuhl hinaushüpfe. Sie wohnt im Hauseingang neben meinem. Sie kennt meine Mutter seit ihrer Geburt. Sie ist meine Vermieterin. Ich hatte mich seit meiner Rückkehr aus Berlin nicht bei ihr gemeldet, ich wollte mit mir selbst sein, mich nicht nach anderen richten, mir nicht Gedanken darüber machen müssen, ob ich jemanden nerve, oder derjenige mich.
„Vielleicht redet sie aber gerne mit dir, vielleicht ist sie einsam“, rasselte meine Mutter am Telefon. Wirklich einsam wäre sie nur einmal in ihren Leben gewesen. Damals, als sie nach einem zweijährigen Aufenthalt in Berlin wieder nach Sarajevo zurückkehrten, Anfang 1996.
Im Asylantenheim hatte man sich zusammengefunden, nach Religion, Herkunft, Nationalität. In der Diaspora hält man sich noch heute daran fest, schafft sich Sicherheit gegenüber der neuen Welt, in die man geschubst wurde.
Wieder zurück konnte man sich an nichts anderem festhalten, als an dem Leben, das man früher hatte. Man drängte seine Kriegserinnerungen weg, seine plötzlich eine Rolle spielende Herkunft. Ihren Plätze nahm eine Angst vor sich selbst ein, vor dem, was man ist, vor dem, was man unterdrückt.
Wir alle haben einen Keller, in dem wir unser unerwünschtes, totes Fleisch im Wind der Zeit baumeln lassen, im Durchzug, um sein Verotten nicht riechen zu müssen. Und wer die Wahrheit spricht, der legt sich mit diesem brav Versteckten an, besser gesagt: seinem Beschützer, dem Hass, der Angst vor dem Aufdecken.
Eukophobie.
Das ist die Angst vor dem Eigenen. Das ist die Scham davor, zu sein, wer man glaubt zu sein. Weil der Blick der anderen so unerträglich ist auf der eignen Haut, dass man sich immer wieder eine neue überziehen muss, um jenem standzuhalten, dass man immer wieder vor sich selbst davonläuft, ohne aufzuatmen, ohne sich umzudrehen. Um nicht einsam zu sein.
Vielleicht auch, um nicht mehr Angst zu haben.
Vielleicht, um am Ende doch einsam zu sein.
Eine wunderbare Beschreibung!
Odlicno napisano, cestitam 🙂